Verfolgungsjagd in virtuellen Welten – Verarbeitung visueller Bewegung im Gehirn des Zebrabärblings

Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max Planck Institut für medizinische Forschung

Autoren
Bollmann, Johann
Abteilungen
Forschungsgruppe Neural Circuits and Behavior
Abteilung Biomedizinische Optik
Zusammenfassung
Die Wahrnehmung bewegter Objekte ist von fundamentaler Bedeutung, um sich sicher fortzubewegen und geschickt auf Dinge zuzugreifen. Unser Gehirn übernimmt die visuelle Steuerung zielgerichteter Bewegung, indem es schnell entscheidet, welches Objekt im Gesichtsfeld wichtig ist, um sodann den Blick durch Augen- und Kopfbewegungen darauf zu lenken. Auch die Zebrabärblingslarve meistert solch zielgerichtetes Verhalten mit Hilfe ihres feinen Sehsystems. Ergebnisse aus dem MPI für medizinische Forschung zeigen nun, wie Bewegungsreize im Gehirn dieses kleinen Jägers verarbeitet werden.

Lebenswichtiges Bewegungssehen

Wir werden von Bewegung geleitet – oder abgelenkt. Man schaut an einem windstillen Tag in den ruhigen Garten. Plötzlich, irgendwo, regt sich etwas: vielleicht ein in den Ästen kletterndes Eichhörnchen. Nichts zieht unseren aufmerksamen Blick so auf sich wie Bewegung. Im Straßenverkehr dient uns das Bewegungssehen in der Peripherie als Warnsignal. In Sekundenbruchteilen ermittelt unser Gehirn, ob sich ein Objekt auf Kollisionskurs befindet und uns zum Ausweichen zwingt. Und wenn unser Blick einem Objekt in Bewegung folgt, steuert das Sehsystem den Muskelapparat unserer Augen, um das Objekt in den zentralen Bereich der Netzhaut (Retina) zu bringen und dort festzuhalten. Oft geht dieser “visuelle Greifreflex” einer zielgerichteten Bewegung der Hände oder des Körpers voraus, wenn wir den Gegenstand z. B. abfangen wollen, wie der Torwart einen Fußball. Im Tierreich ist dieses visuell gesteuerte Folgeverhalten in jedem Winkel zu beobachten und es erschließt sich uns leicht Ziel und Zweck dieser Jagd. Das Ziel: ein anderes Tier. Der Zweck: Nahrungsaufnahme oder Fortpflanzung. Die lebenswichtige Bedeutung dieser Handlungsmuster lässt erahnen, dass die dem Folgeverhalten zugrunde liegenden neuronalen Schaltkreise effizient und zuverlässig arbeiten müssen, um das Überleben zu ermöglichen.

Die visuelle Verarbeitung von Bewegung wird heute als eine speziell entwickelte Funktion des Sehsystems verstanden, die auf unterschiedlichen Stufen stattfindet und sich in den Aktivitätsmustern von Neuronen manifestiert, welche spezifisch auf bewegte Reize reagieren. Solche bewegungsempfindlichen Nervenzellen findet man bereits in der Retina, aber auch in weiten Teilen der Hirnrinde (Kortex) sowie in tiefer liegenden Sehzentren, wie beispielsweise den oberen Hügelchen (Colliculi Superiores). Diese dem Dach (Tektum) des Mittelhirns entsprechende Struktur erhält direkte Eingänge von Projektionsneuronen der Retina, und zwar dergestalt, dass räumlich benachbarte Reize in unserem Gesichtsfeld auch benachbarte Regionen auf der Oberfläche des Tektums aktivieren (retinotope Abbildung). Zugleich enthalten die tieferen Schichten des Tektums Neuronen, welche Augen- und Kopfbewegungen auslösen können mit dem Ergebnis, dass der Blick auf die der retinotopen Karte entsprechenden Stelle gerichtet wird. Über diese mehr oder weniger direkte Kopplung von Sensorik und Motorik hinaus werden dem Tektum wichtige Funktionen bei der Auswahl und Bewertung von konkurrierenden Zielobjekten und der Aufmerksamkeitssteuerung zugeschrieben. Das bisherige Verständnis dieser Schaltkreise ist einer Vielzahl von Experimenten zu verdanken, in denen zumeist einzelne Zellen mittels feiner Elektroden untersucht wurden. Fundamentale Weiterentwicklungen in der Fluoreszenzmikroskopie ermöglichen es heute, die räumliche und zeitliche Verteilung von Aktivitätsmustern in Hunderten von Nervenzellen an der Oberfläche des Gehirns gleichzeitig zu „filmen“ [1, 2], doch leider ist dieser Ansatz für tiefer liegende Zentren des Bewegungssehens in den meisten Wirbeltieren nicht möglich.

Ein „gläserner“ Jäger gewährt Einblick in sein Gehirn – Zebrabärbling als Modellsystem

Die Larve des Zebrabärblings, salopp auch Zebrafisch genannt, ist eine glückliche Ausnahme. Die Larve und ihr Gehirn sind klein; im Alter von wenigen Tagen misst die Larve etwa vier Millimeter und ihr Gehirn ist an der dicksten Stelle nicht tiefer als 0,5 mm (Abb. 1). Die Haut der Zebrafischlarve ist durchsichtig, sodass praktisch alle Bereiche ihres Gehirns unter Verwendung der Mehrphotonen-Fluoreszenzmikroskopie mit zellulärer Auflösung „durchleuchtet“ werden können. Um außerdem noch das Feuern von Neuronen sichtbar zu machen, können Wissenschaftler auf ein großes Spektrum molekularbiologischer Methoden zurückgreifen. Damit können Nervenzellen gezielt zur Anreicherung von fluoreszierenden, Kalzium-bindenden Proteinen veranlasst werden, die die mit neuronaler Aktivität einhergehenden Kalziumsignale sichtbar machen [3]. Interessant wird die Zebrafischlarve für die Neurobiologie vor allem, weil sie schon in frühen Stadien über Sinnessysteme verfügt, die denen anderer Wirbeltiere prinzipiell gleichen. So sind z. B. die Augen und die Sehzentren des Mittelhirns der Larve den subkortikalen Sehzentren der Säuger im Aufbau ähnlich (Abb. 1). Die Summe dieser Vorteile gibt Anlass zur Hoffnung, dass in der Zebrafischlarve erreicht werden kann, was ein Langzeitziel der Hirnforschung ist, nämlich das Zusammenwirken aller Neurone im intakten Gehirn zu verstehen.

Phantomjagd: Die virtuelle Welt der Zebrafischlarve

Das gut entwickelte Sehsystem macht die Zebrafischlarve zu einem beeindruckenden Jäger, der kleine Wimpertierchen zielstrebig verfolgt und fängt [4]. Die Aufgabe ist nicht einfach, da das Beutetier kaum kleiner als das Maul der Larve ist und häufig seine Richtung wechselt. Entfernt erinnert das Problem an den Versuch, einen Schmetterling mit einem zu kleinen Netz zu fangen: nur ein schnelles Reaktionsvermögen und häufige Richtungsanpassungen des Fängers führen zum Erfolg.

Um die zielgerichteten Bewegungsmuster der Larve quantitativ zu erfassen, untersucht die Forschungsgruppe um Johann Bollmann am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung das Schwimmverhalten mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitskameras, wie sie auch bei Crashtests im Fahrzeugbau zum Einsatz kommen (Abb. 2). Anschließend verwenden die Forscher die daraus gewonnenen Informationen, um eine virtuelle Welt für den Zebrafisch zu errichten, in der die Beute nur noch aus projizierten Bildern besteht. Ist die Larve in dieser Welt mittels etwas Agarose eingebettet, so führt sie doch Schwimmbewegungen in Richtung des virtuellen Wimpertierchens aus. Werden auch noch die Schwimmversuche in Echtzeit optisch gemessen und in entsprechende Änderungen der virtuellen Umgebung umgesetzt, so führt die Larve ganze Sequenzen ihres natürlichen Beutefangverhaltens aus. Was zunächst wie ein Spiel klingt, bietet tatsächlich immense Vorteile beim Studium des visuellen Systems. So kann zum Beispiel durch exakt gesteuerte Verzögerungen oder Verschiebungen der virtuellen Beute getestet werden, wie das Sehsystem sehr schnell auf unerwartete Fehler bei der Bewegungsausführung reagiert. Und da die Larve in der virtuellen Beutefangwelt ganze Schwimmabfolgen ausführt, ohne sich tatsächlich fortzubewegen, eröffnet diese Technik die Möglichkeit, den zugrunde liegenden Informationsfluss der elektrischen Signale im Nervensystem unter dem Fluoreszenzmikroskop messbar zu machen.

Arbeitsteilung im Gehirn: Neuronen, die Bewegung „sehen“

Ein wichtiges Ziel zum Verständnis des Gehirns ist es zu verstehen, welche Aufgaben verschiedene Nervenzellgruppen, sogenannte Schaltkreismotive, aufgrund ihres synaptischen Verknüpfungsmusters übernehmen könnten. So wird z. B. seit langem die Frage diskutiert, welche neuronalen Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass die Bewegungsrichtung eines Reizes in Form unterschiedlicher neuronaler Feuerraten verschlüsselt wird, was die „Richtungsempfindlichkeit“ eines Neurons bezeichnet.

Im Gehirn des Zebrafisches haben die Heidelberger Max-Planck-Forscher nun ein neues Schaltkreismotiv entdeckt, das mit der Verarbeitung von visuellen Bewegungsrichtungen befasst ist [3]. Wie auch in vielen anderen Hirn-Arealen findet man im Tektum richtungsempfindliche Nervenzellen, ohne ihre Verschaltung zu kennen. Gemeinsam mit der Gruppe von Soojin Ryu im selben Institut schleusten die Wissenschaftler ein Gen für den molekularen Kalziumsensor „GCaMP3“ so in die Zebrafischlarve ein, dass es nur in einer geringen Zahl von Nervenzellen angeschaltet wird und diese zum Leuchten bringt. Mit Hilfe der Mehrphotonenmikroskopie ließ sich damit die Richtungsempfindlichkeit einzelner Zellen bestimmen (Abb. 3).

Unter Verwendung feinster Glaspipetten konnten identifizierte Zellen anschließend mit einem roten Fluoreszenzfarbstoff gefüllt werden, wodurch innerhalb weniger Minuten ein detailliertes Bild der betreffenden Zelle und ihres dendritischen Verzweigungsmusters sichtbar wurde. So ließen sich zwei strukturell verschiedene, richtungsempfindliche Zelltypen mit entgegengesetzten Vorzugsrichtungen nachweisen. Überraschenderweise liegen die dendritischen Verzweigungen dieser zwei Zelltypen geschichtet in verschiedenen Lagen des Tektums.

In weiterführenden Untersuchungen konnten die Heidelberger Forscher nachweisen, dass richtungsempfindliche Signale von Projektionsneuronen der Retina ebenfalls in diesen Schichten eintreffen, sodass hier erstmals der Nachweis für eine schichtspezifische Verarbeitung von Richtungsempfindlichkeit in einem Sehzentrum jenseits des Auges gelang [3]. Für Erkenntnisse der Art, wie die räumliche Struktur eines Schaltkreises seine Funktion bedingt, ist die Zebrafischlarve aufgrund ihrer Kompaktheit, der genetischen Zugänglichkeit und ausgereiften Visuomotorik ein hervorragendes Untersuchungsmodell [5, 6].

Mehr als eine Handvoll Zellen: Die vollständige Rekonstruktion des Zebrafisch-Gehirns

Die Auflösung der Lichtmikroskopie reicht auch in diesem Tiermodell nicht aus, um die feinen Verästelungen und synaptischen Kontakte aller Neuronen in Gänze sichtbar zu machen. Das Ziel, einen vollständigen Verschaltungsplan des Gehirns dieses kleinen Jägers zu erhalten, erfordert das Auflösungsvermögen des Elektronenmikroskops (Abb. 4). Zusammen mit Winfried Denk arbeiten die Forscher am Heidelberger Max-Planck-Institut daran, mit Hilfe der seriellen blockface-Rasterelektronenmikroskopie (SBEM) [7] das Gehirn der Zebrafischlarve Schnitt für Schnitt mit höchster Auflösung abzufotografieren, um anschließend die Drähte und Verschaltungen des Gehirns am Computer zu rekonstruieren [8]. Solch ein umfassender Verschaltungsplan hätte unschätzbaren Wert: Wir könnten besser verstehen, welche Wege der Informationsfluss in biologischen Netzwerken nimmt, wenn das Gehirn unser Verhalten steuert.

Literaturhinweise

1.
Denk, W.; Strickler, J. H.; Webb, W. W.
Two-photon laser scanning fluorescence microscopy
Science 248, 73-76 (1990)
2.
Mittmann, W.; Wallace, D. J.; Czubayko, U.; Herb, J. T.; Schaefer, A. T.; Looger, L. L.; Denk, W.; Kerr, J. N.
Two-photon calcium imaging of evoked activity from L5 somatosensory neurons in vivo
Nature Neuroscience 14, 1089-1093 (2011)
3.
Gabriel, J. P.; Trivedi, C. A.; Maurer, C. M.; Ryu, S.; Bollmann, J. H.
Layer-specific targeting of direction-selective neurons in the zebrafish optic tectum
Neuron 76, 1147-1160 (2012)
4.
Trivedi, C. A.; Bollmann, J. H.
Visually driven chaining of elementary swim patterns into a goal-directed motor sequence: a virtual reality study of zebrafish prey capture
Frontiers in Neural Circuits 7, 86 (2013), DOI:10.3389/fncir.2013.00086
5.
Orger, M. B.; Kampff, A. R.; Severi, K. E.; Bollmann, J. H.; Engert, F.
Control of visually guided behavior by distinct populations of spinal projection neurons
Nature Neuroscience 11, 327-333 (2008)
6.
Friedrich, R. W.; Jacobson, G. A.; Zhu, P.
Circuit neuroscience in zebrafish
Current Biology 20, R371-381 (2010)
7.
Denk, W.; Horstmann, H.
Serial block-face scanning electron microscopy to reconstruct three-dimensional tissue nanostructure
PLoS Biology 2, e329 (2004)
8.
Denk, W.; Briggman, K. L.; Helmstaedter, M.
Structural neurobiology: missing link to a mechanistic understanding of neural computation

Nature Reviews Neuroscience 13, 351-358 (2012)

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